Ich und Wir, Individuum und Kollektiv, Machthabende und das Volk

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Die zwei letzten Jahrhunderte standen im Zeichen der Herausbildung von Nationalstaaten. Mit ihnen verbunden war die Herausbildung von Nationen. Damit verbunden war die Herausbildung eines Ichs, das Ich der Nation/des Nationalstaates, das Ich des Individuums, das Ich von Gesellschaften, Firmen, Verbänden, Vereinen, politischen Institutionen. Der Prozess ist noch nicht abgeschlossen. In vielen Regionen der Welt und in vielen Herzen von Menschen ist das Ich noch dabei, geboren zu werden und kämpft darum, sichtbar zu sein und Raum zu haben. Es gibt andere Regionen in der Welt und es gibt andere Individuen, die diesen Prozess weitgehend abgeschlossen haben und definiert existieren.

Der Prozess der Herausbildung eines Ichs, einer Nation ist von positiven wie von negativen Begleiterscheinungen geprägt. Positiv ist die Bewusstheit, das Selbstverständnis, das Selbstbewusstsein und das Verständnis der Grenzen von Ich und Du. Negativ ist die Tendenz, dass das Ich nach Besitz strebt und in diesem Prozess immer mehr Besitzstreben entwickelt. Negativ ist auch der individualistische Egoismus, der durch die Herausbildung des Ichs möglich wird. Der private Besitz eines Individuums birgt die Gefahr, das Herz zu verschließen vor den Auswirkungen dieses Besitzes auf andere und auch das Herz zu verschließen vor dem Besitz selbst. Er wird versachlicht. So kann Erde, können die Pflanzen, die Tiere, ja selbst die Menschen zu einem Ding oder zu einer Ware werden. So werden Tiere oder Menschen zu Tausenden ermordet oder die Erde durch Fracking vergewaltigt.

Die Herausbildung des Ichs bewirkt auch Ängste. Die Vereinzelung, die Sinnleere oder auch Sinnsuche, die Relativität von allem, vielfach als Postmoderne bezeichnet, dass eben alles da sein kann und alles gut sein kann, bewirkt bei vielen das Gefühl des Verlorenseins. So wird das Wir zum Bedürfnis. Das Wir wird gesucht und das Wir gefunden werden. Das Kollektiv, die kollektive Meinung soll davor schützen, angegriffen oder gar ausgeschlossen zu werden. Was ist dabei der Unterschied zu einer vorkapitalistischen, feudalen Gesellschaft, wo es doch auch den Zwang zum Kollektiv, den Zwang zur Einhaltung der herrschenden Meinung gab? Der Unterschied ist die Tatsache, dass man sich freiwillig dem Kollektiv unterordnet, obwohl von außen gesehen kein Zwang mehr besteht, sondern die sogenannte Meinungsfreiheit in der Demokratie existiert. Und doch möchte man auch hier dazugehören und unterscheidet sich in diesem Verhalten gar nicht von den vordemokratischen Gesellschaften. Man ist allerdings der Meinung, frei zu sein und eine freie Meinung zu äußern. Auch dies ist ein gravierender Unterschied. So erkennt man nicht die Geformtheit der eigenen Meinung durch das Kollektiv. Die Angst eines Einzelnen, dieses Kollektiv zu verlassen, ist vergleichbar mit der Angst, eines Stallhasen, aus seinem vertrauten Stall zu hüpfen. Beide bleiben gefangen.

Was nun bewirkt den Prozess der Befreiung? Wodurch verlässt man das Kollektiv, um eine eigene Meinung bilden und äußern zu können, um eine wirkliche Freiheit zu erlangen? Unter demokratischen Bedingungen sind es vor allen Dingen die Wirtschaft und die Wissenschaft, welche kritisches Denken und ein dialektisches Herangehen an die Realität bewirken. Die Wirtschaft zwingt dazu, weil in einer freien Gesellschaft der Wettbewerb bewirkt, immer weitere Verbesserungen, immer größere Wettbewerbsfähigkeit, aber auch immer bessere Netzwerke zu entwickeln, um sich selbst zu stärken. Dafür ist kritisches Denken notwendig. In der Wissenschaft verhält sich dies ähnlich, nur dass es hier um Erkenntnisse geht – und Erkenntnisgewinn wird ebenfalls durch dialektisches Denken in pro und contra sowie in beständigem Diskurs und Dialog gewonnen. Wenn die Gesellschaft allerdings ihren demokratischen Charakter verliert, wenn die Marktwirtschaft zunehmend monopolisiert und die Wissenschaft zunehmend instrumentalisiert wird, so kann dieser Prozess ins Stocken geraten. Dies hat sicherlich Auswirkungen auf die Bildungspolitik wie auch die Information, die über die Medien vermittelt wird.

Da die Konzerne nach immer weiterer Monopolisierung ihrer Machtstellung und durch das unbeschränkte Profitstreben nach immer weiterer Aneignung von Besitz und Macht streben, wird die Demokratie zunehmend zu einer Oligarchie und die einzelnen Bereiche der Gesellschaft zunehmend instrumentalisiert. So wie die Arten verschwinden, verschwinden auch die verschiedenen Meinungen. Sie werden immer mehr zu Mainstreams zusammengeschaltet.

Es gibt derzeit keine Institution, keine Macht, die diesen Prozess zum Erliegen bringen kann. So gibt es nur die Möglichkeit, ihm individuell zu begegnen. Die Bildung von Kooperativen und Kollektiven, von Netzwerken und Zusammenschlüssen kann eine Gegenbewegung sein und werden, die den jetzigen Prozess der Oligarchisierung hinterfragt, analysiert und möglicherweise auch Institutionen entwickelt, die sich ihm entgegenstellen können. Noch sind es vor allem die Meinungsnetzwerke der einzelnen, die dies tun. Sie bieten allerdings die Möglichkeit, mehr noch die Basis einer Organisation.

Foto: www.lindatroeller.com