März 1991
18.03.91
Mein erstes großes Abenteuer (kleinere gab es zuvor auch schon) muss ich notieren:
Wir fuhren also kurz vor der polnischen Grenze schon eine Stunde hin und her, da der Busfahrer wegen des dringenden Wunschs, noch vor der Grenze zu tanken, die Autobahnauffahrt erst wieder in einem großen Umweg erreichen konnte, bevor wir die Grenze dann endlich doch erreichten. So hatten wir noch Gelegenheit, die reichlich verfallenen Häuser und das gefühllose Nebeneinander von Industrie und Wohnen in der Nähe von Frankfurt/Oder betrachten zu können.
Wir mussten an der Grenze warten und entgegen der Abschaffung der Visumpflicht mussten wir schon im Dezember die Visa-Formulare ausfüllen. Als im Verlauf des Formulars die Frage folgte, ob ich schon in Polen gewesen sei (ich war ja mal 1 Tag in Warschau), wollte ich mich noch mal im Reisepass vergewissern und erkenne, dass ich Klaus’ Reisepass in Händen halte. Meiner liegt also zuhause im Schreibtisch. “Nur nicht die Nerven verlieren!” denke ich und trage halt in Ermangelung einer anderen Klaus’ Reisepass-Nummer ins Formular ein. Ab jetzt hoffe ich, dass nur die Formulare eingesammelt werden. Aber nein! Wir müssen die Formulare in die Pässe legen und alles wird vom Busfahrer im Zollhäuschen abgegeben. Der Passkontrolleur kann mich hervorragend sehen. Ich sitze im Profil etwa zwei Meter von ihm entfernt, durch den Bus etwas erhöht. Ich beschließe, so zu tun, als wüsste ich nichts und mich um nichts zu kümmern. Ich lese. So kann ich leider nicht sehen, wie er, der Zollbeamte, das alles abwickelt. Er stempelt jedenfalls die überholten Visaformulare und die Pässe ab, nur unterbrochen von unserem Busfahrer, der ihm ein paar Flaschen Cola zur Stärkung bringt. Was geschieht? Alle Pässe kommen mit Stempel zurück, der Reiseleiter verteilt. Meine Hände sind immer noch feucht, denn er kann es schließlich bemerken. Alle Pässe werden von ihm aufgeschlagen, um per Passfoto den Inhaber ausfindig zu machen. Ich beschließe, weiterhin von nichts zu wissen, diesmal aber außerhalb der unmittelbaren Gefahrenzone alles genau zu beobachten. So sehe ich, dass außer drei Pässen alle verteilt sind, und von den drei letzten kann nur der untere “meiner” sein, da die beiden anderen noch alte, grüne sind, die neuen und “meiner” sind ja violett. Also sage ich souverän: “Das ist meiner” und er wird nicht aufgeklappt. Ist das noch Zufall?
Zuvor noch eine Episode: Der Reiseleiter gibt mir einen Pass und sagt: “Ist das Ihrer?” Ich schlage ihn auf und es ist der meines Hintermannes. “Sehr witzig”, sage ich …
Last not least: Um mein Schicksal zum Guten hin zu beeinflussen, habe ich, während der Zollbeamte die Pässe öffnete, mein Polnischbuch “Polnisch für Anfänger” möglichst hoch gehalten, um ihn positiv zu beeinflussen …
So ist das Leben.
20.03.91
Zwei Tage in Polen. Genau gesagt: zwei Tage in Schlesien, im südlichsten Industriegebiet. Jede zweite Fabrikanlage steht still und verfällt hier in der Region Watbczyck, dem früheren Walchenburg. In dieser Gegend war bis zum Ende des zweiten Weltkrieges die übergroße Mehrheit deutsch und siedelte 1945 um. Das ist ein wichtiger Hintergrund für diesen erschreckend verfallenen Zustand hier. Ich denke, dass etwa jedes 20. Haus verfallen ist und jedes 15. in einem substanzbedrohten baulichen Zustand. Offensichtlich wird hier fast alles mit Braunkohle beheizt. Das ist ein Gefahre und Geschaukele der Kohle wegen! Und es stinkt natürlich. Am ersten Morgen kam die Sonne gar nicht durch, weswegen die Sichtweite nicht mehr als 100 Meter betrug. Der Nebel ist stickig, das Atmen kratzt im Hals, eine Erkältung, die ich gerade hatte, bekommt man hier sicherlich so schnell nicht mehr los. Die Gebäude sind vielfach schmutzig und es herrscht Mangel an Putz, weshalb der Verfall beschleunigt wird.
Schlimmer als all das ist der Umgang der hier wohnenden Menschen mit der Natur. Die Bäume sterben, das Land wird nur als Mittel zum Zweck benutzt, der Abfall wird rücksichtslos weggeworfen. Brutal gesagt sieht es hier aus wie auf einem riesigen Müllhaufen. Wir waren heute im Eulengebirge, doch der Spaziergang durch den großen Wald bei dem ehemaligen Arbeitslager Riese konnte mich nicht trösten. Sicher, die Luft war besser, doch der Wald ist krank. Der Wald ist auch bei uns krank. Dazu kommt wohl noch dieses schreckliche Vermächtnis des Nationalsozialismus, diese Betonbauten mitten im Wald, Tunnelgänge, Katakomben, von Sklavenarbeitern gebaut, noch heute weiß niemand genau, zu welchem Zweck, es ist vergleichbar mit dem Tunnelsystem von Ceausescu. Mitten im polnischen Wald, über Kilometer. Das Netz der ehemaligen Arbeitslager überzieht die ganze Region. Gewiss, man sieht sie vielleicht nicht, wenn man von nichts weiß. Doch die, die hier leben, wissen davon.
Ich habe insgesamt vier Menschen von Watbczyck gefragt, ob es ihnen hier gefällt. Keiner hat mit “ja” geantwortet, drei vehement mit “nein”. Es ist nicht leicht, hier zu leben, allein schon aufgrund der so stark verschmutzten Luft. Ironischer- und zynischerweise befindet sich in direkter Angrenzung an Watbczyck das viertgrößte polnische balneo-klimatische Heilbad Szcawno Zdroj. Seine Geschichte als Kurort reicht mindestens bis ins 13. Jahrhundert. Hauptindikationen waren Metabolismus und Erkrankungen der Harnwege. Ich habe mir Szcawno Zdroj deshalb genauer angeschaut. Die alte Pracht ist noch sichtbar, doch auch hier ist der Verfall das Prägende. Der Verfall macht noch nicht einmal vor den Bäumen des Kurparks Halt. Wie soll er dann eine Ausnahme bei den Menschen machen?
Die Menschen hier sind freundlich, zuvorkommend und sehr höflich. Sie sind ausgezeichnete Gastgeber/-innen, und wir alle fühlen uns in dieser Hinsicht wohl. Alle sehnen sich natürlich nach dem Luxus und Komfort des Westens. Um ihn schnell zu bekommen, benötigt Polen ein Internationalisierungsprogramm hinsichtlich Sprache (immer noch spricht fast niemand Englisch) und ein konsequentes Aufbauprogramm für Industrie und Umwelt. Doch wo sollen in Polen die vielen benötigten Unternehmerfirmen und Managerfirmen herkommen? Wenn Polen jetzt mit der Entsendung von befähigten Leuten in westliche Industriegebiete begänne, könnten schon in zehn Jahren beste Erfolge sichtbar werden. Ohne fähige Köpfe kein erfolgreiches Weiterkommen.
Was kann ich zu dem Lager Groß Rosen und dem Arbeitslager Riese sagen? Am meisten erschüttert mich die perfekte, solide Bauausführung, die selbst an den Überresten der Lager und Stollen noch zu sehen ist. In Groß Rosen war selbst für ein Abwasserleitungssystem gesorgt, die Fundamente der Baracken sind zementiert, die Treppen sind für Jahrhunderte gebaut. In die Stollen und Gruben von Riese wurden viele hunderte, vielleicht tausende Tonnen Zement gebracht und mit bestimmt enormen menschlichen Opfern auch verarbeitet. Es stellt sich unwillkürlich die Frage: Warum? Mit welchem Sinn?
Alles ist heute stillgelegt, alle Arbeit war umsonst. In dem großen Steinbruch direkt bei Groß Rosen arbeitet heute niemand mehr. Noch sind die Schienen, die Zugseile und die Türme zu sehen. Fast täglich gingen hier während der Herrschaft des Nationalsozialismus Menschen in den Freitod, sprangen zum Beispiel den teilweise zig Meter hohen Abhang des Steinbruchs hinunter. Das Unerklärliche, Unerfindliche, Unbeschreibliche ist diese Sinnlosigkeit all der Opfer, was den konkreten Zweck betrifft. Es ging aus heutiger Sicht ganz sicher nicht um den Aufbau von Arbeitslagern, das Anlegen eines unterirdischen, geheimen Stollensystems (welches sogar mit Zu- und Abluftsystemen ausgestattet ist), die Ausbeutung irgendwelcher Steinbrüche und die Herstellung industrieller Produkte, auch Waffen, denn: der Aufwand stand keinesfalls im Verhältnis zum Ertrag. Es ging folglich um etwas anderes. Aber um was?
Eines ist noch anzumerken: Der Saal des Kurtheaters von Szcawno Zdroj ist wunderschön. Er vermag es, allen Besuchern eine Freude zu machen. Wir hörten dort ein Kammerkonzert mit den Werken von J. + J. Strauß. Jetzt verstehe ich erst, was “ungepflegte Natur” bedeutet. Auch in Chile hatte ich das schon gesehen, führte es aber auf die rohe Urbarmachung in kurzer Zeitspanne zurück.
21.03.91
Frühlingsanfang
Die Kinder Polens feiern ein nationales Fest, tragen den Winter zu Grabe, verkleiden sich nach Lust und Möglichkeit. Es war schön, in Wroclaw so viele fröhliche, freie junge Menschen auf der Straße zu sehen. Straßen und Plätze gehörten ihnen. Wir kamen nach Gleiwitz, eine Stadt mit einem besonderen Reiz, erinnerte mich an nordfranzösische Städte. Natürlich verfallen, aber doch sehr lebendig. Wäre da nicht dieser Schmutz. Selbst die Parks sind eine zertrampelte Masse – ich habe es in Gleiwitz jedoch besonders erschütternd gefunden, weil der Park so klein war und das Grün nur noch so wenig. Der Rest: Matsch.
Nun traf ich einen Herrn, den ich fragen konnte, ob das auch im Sommer so sei. Er bejahte und begann, auf die Polen zu schimpfen. Es stellte sich heraus, dass er einer der lebenden verbliebenen Deutschen in Gleiwitz war. Unter der Erde des Parks seien 20.000 russische Soldaten begraben. Viele seien später auf einen Friedhof gebracht worden, etliche lägen aber noch unter selbiger Erde. In Gleiwitz wohnten vor 1939 ca. 60.000 jüdische Menschen von insgesamt 180.000 Einwohnern, sagte er mir aufgrund meiner Frage. Er leitete gerne wieder von diesem Thema weg auf seins: dass Adolf Hitler nicht anders konnte und dass er stolz auf Deutsches sei. Seine Augen waren so traurig, so traurig wie die, die ich aus Israel kenne. Jetzt bin ich in Auschwitz. Seit Gleiwitz schon ist es mir übel. Hier im Bett erfasst mich Nervosität. Ich werde so schnell nicht einschlafen können. Es überträgt sich auf meinen Körper so etwas in Wellen. Es kommt von der Straße her, an der mein Zimmer liegt. Morgen werde ich wissen, woher genau, denn heute war alles schon dunkel bei unserer Ankunft.
22.03.91
Heute Nacht hatte ich schreckliche Albträume von Zwangsarbeit. Ich musste unter großem Zeitdruck Shampoo in Flaschen einfüllen. Ein männlicher Bekannter war mein Aufseher. Ich wachte nassgeschwitzt auf.
Die Dimension von Auschwitz für die Polen ist mir erst heute zu Bewusstsein gekommen. Wie viele Polen sind u. a. von SS und Wehrmacht ermordet worden? Polen beklagt allein sechs Millionen Todesopfer des 2. Weltkrieges, ganz abgesehen von den sozialen, kulturellen und materiellen Schäden, die durch die Vernichtung eines Großteils der geistigen Führungselite, die Ausrottung des Judentums, die Um- und Aussiedlung ganzer Regionen, der Bewertung als Untermenschen und die Zwangsarbeit von Millionen von Menschen, das Auseinanderreißen von Familien und das Ausspielen der verschiedenen religiösen und sozialen Gruppen gegeneinander entstanden sind.
In dem niederschlesischen Gebiet, durch das wir am Anfang fuhren und welches ich grob beschrieben habe, lebten mehr als zur Hälfte Deutsche, die nach dem 2. Weltkrieg das Land verließen, mehr als 50 % der Häuser standen zunächst leer. Und wahrscheinlich ein noch viel höherer Prozentsatz der Fabriken verlor ihren Besitzer. Menschen aus dem Osten des Landes zogen zu und begannen, die Lücke zu füllen, doch immer mussten die Menschen sich doch noch die Frage stellen, ob oder wann die alten Besitzer wiederkommen. Erst heute bekommen sie vom deutschen Staat verbindliche Antworten.
Auschwitz. So nenne ich fortan das Konzentrations-Stammlager in Ozwiecim, denn in Polnisch heißt der Ort Ozwiecim und liegt tief im Landesinnern Polens, von deutscher Seite aus gesehen. Ich hatte große Angst vor der Begegnung mit Auschwitz. Es war das Unbekannte, ein dunkles, tiefes Loch, unvorstellbare, auf mich wartende Geister. Nun, heute Abend, nach einem Tag in Auschwitz bin ich erleichtert und kann wieder glücklich sein.
Was ich in Auschwitz sah, wusste ich bereits. Was anders war: die Gebäude. Häuser aus Stein, gebrannte Klinker, rot, massiv, kalt. Die Räume zwar hoch, aber eigentlich nicht so groß. Viele Fenster. Es sind frühere Militärgebäude. Was mir den Atem verschlug, mich die Beherrschung verlieren ließ, war der Gang durch das Gefängnisgebäude. Die Zellen ohne Fenster, duschkabinengroß, in die 4 Personen über Nacht eingesperrt waren, die größeren Zellen mit entsprechend mehr Menschen, auch ohne Fenster, dicke Holztüren davor, Hungerzellen, in denen man die Menschen einfach verhungern ließ. Als ich den Gang hinauf stieg, aus dem Folterkeller wieder heraustrat, kamen mir auch noch eine polnische und die israelische Jugendgruppe entgegen. Ich fühlte mich so bedrängt, hatte in dem Gang zum Ausgang des Gebäudes auch keine Ausweichmöglichkeit, die entsetzten Augen der jungen Leute, mein eigenes Entsetzen wahrscheinlich nochmals widerspiegelnd. Entsetzlich.
Nach diesem Besuch kann ich das Leben in Auschwitz/Ozwiecim mit festen Bildern verbinden. Das ist wichtig für die künftige Fiktion. Was ich nicht wusste: dass auch viele deutsche, nichtjüdische Häftlinge dort ihr Leben ließen. Ich möchte diese Frage genauer klären, die Frage des Verhältnisses Juden/Nichtjuden unter den Nationalitäten in Auschwitz, die dort litten. Ich bin empört, dass der Anteil der jüdischen Menschen an den Opfern der einzelnen Länder nicht wirklich dargestellt wird in der Museums-Präsentation. Die “nationale Ausstellung” mit dem Titel “Märtyrertum der Juden” ist die letzte Halle und von den anderen abgetrennt, was den Inhalt angeht. Es soll sich jetzt ändern. Der Anteil der jüdischen Menschen soll auch in den “nationalen Ausstellungen” selbst zum Ausdruck kommen. Wir werden sehen. Dadurch jedenfalls, dass es im heutigen Polen fast keine Juden mehr gibt, ist das nicht so einfach, wieder mit den Juden zusammenzukommen. All das betrachte ich auch als deutsches Vermächtnis.
Beispiel Auschwitz. Neben dem Stammlager gab es früher eine Siedlung, in der vor allem der katholische Teil der Bevölkerung Oswiecims lebte; als Auschwitz Stammlager wurde, kam es anfangs zu Häftlingsausbrüchen. Die Häftlinge wurden von der umliegenden Bevölkerung versteckt. Also wurden diese ausgesiedelt und ihre Häuser wurden einfach niedergerissen. Wo sind sie eingezogen? In die Häuser ihrer jüdischen Mitbürger, welche nach Auschwitz und in die umliegenden Ghettos “umziehen” mussten. Was musste das bewirken nach 1945?! Für die jüdischen Menschen gab es kein Zurück. Es ist, denke ich, auch nicht zumutbar, den Rest seines Lebens als jüdischer Mensch neben einem Krematorium zu verbringen, ohne zugleich die Frage der nationalen Identität eindeutig beantworten zu können. Die Polen können sagen: jetzt ist es unser Land. Was kann der polnische Jude, die jüdische Polin sagen, wenn ihre Identität als Juden gleichzeitig ein Tabu, ein Problem darstellt, über das nicht offen gesprochen werden kann?
Die israelische Gruppe, die heute Auschwitz besuchte, hatte israelische Fahnen dabei, nicht wenige, und ich denke, sie brauchen es nicht nur, um sich zu ihrer Identität zu bekennen und in ihr die Festigkeit zu finden, die notwendig in der Konfrontation mit dieser Vergangenheit ist, sondern es ist auch gut so, weil sie die anderen mit dem Tabu, dem Problem, welches ja das Tabu, das Problem der anderen ist, konfrontieren. Ich habe mich sehr gefreut, diese Gruppe zu sehen, es aber noch nicht gewagt, “Shalom” zu sagen. Ich bin halt doch eher ein schüchterner Mensch. Vielleicht war es auch die Angst vor dem Risiko, abgewiesen zu werden.
Morgen fahren wir nach Birkenau.
24.03.91
Gestern waren wir in Birkenau. Birkenau war eine riesige Fabrik des Todes. Sie zu sehen, im Ganzen, in Teilen, vollendet das Bild vom scheinbar sinnlosen Hintergrund des nationalsozialistischen Holocaust. Birkenau ist die Perfektion des Wahnsinns. Nur: welchen Wahnsinns? Ich habe von Birkenau etliche Dias gemacht. Ich hoffe, sie können mir erklären helfen.
Heute sind wir in Krakow, Krakau. Zuerst war unsere Gruppe im jüdischen Viertel, Kasimierz. Das hat mich sehr erfreut, zumal hier noch zwei Synagogen stehen, eine vom polnischen Staat restauriert und als Museum umgestaltet, eine noch “aktive” Synagoge ganz in der Nähe. Allerdings leben in Krakow von den vormals ca. 60.000 jüdischen Mitbürgern nur noch 200, und die werden irgendwann niemanden mehr hinterlassen können. Einen Rabbi gibt es nur noch in Warschau, und der musste aus Israel “importiert” werden.
Es erschien mir wie ein Wunder, zwei traditionelle Synagogen in Polen zu finden, wo doch fast alle materiellen und immateriellen jüdischen Güter der Zerstörung zum Opfer fielen. Ich muss sagen, dass ich sehr glücklich war. Doch ich bemerkte, dass in der Museums-Synagoge “etwas nicht stimmt”. Eine israelische Gruppe wurde durch “ihre” Synagoge von einem polnischen Führer geführt!? Unsere polnische Stadtführerin erklärte uns, dass die jüdischen Frauen in der Synagoge abgesondert säßen, weil sie nach jüdischem Glauben unrein seien. Im Eingangsbereich der Synagoge wurden Kochbücher mit Rezepten jüdischer Küche und Schallplatten verkauft!?
In der noch zu religiösen Zwecken gebrauchten Synagoge warteten schon jüdische Führer auf uns. Der dahinter befindliche Friedhof mit seinen Grabsteinen war noch erhalten! Das kam so: die jüdischen Menschen Krakows wussten von dem Schicksal jüdischer Synagogen und Friedhöfe anderswo, legten vor dem Einmarsch der Nazis die Grabsteine um und begruben sie unter der Erde. So blieben sie erhalten. Die Synagoge benutzten die Nazis als Lagerhallen. Die Menschen, die die Synagoge betreuen, Frauen und Männer, sind noch heute sehr traurig über ihr Schicksal. Muss es eigentlich so sein und bleiben, dass Polen ohne Juden lebt? Objektiv gesehen ist es ein Verlust für beide Seiten. Da ich aber an den Häuserwänden noch immer Galgen mit daran hängenden Judensternen gesehen habe, glaube ich, dass es auch gute Gründe gibt, Distanz zu halten.
Doch und doch und doch: Die Feindschaft wird nur sterben durch den Dialog, Hass nur beendet durch den Austausch. Wie lange wird das noch dauern? Es war interessant zu sehen, wie unsere Gruppe auf den Kontakt mit der israelischen Gruppe reagiert. Ich glaube, es ist für alle die schwerste Begegnung, zumal auf polnischem Boden. Es sei denn, das Problem würde sofort verdrängt. Das kann ich noch nicht sagen.
Krakow ist die Stadt mit der ältesten Universität des Ostens, mit 10 Theatern und 24 Museen – ein kulturelles Zentrum. Sicher möchte ich wiederkommen. Meine Freunde in der Synagoge besuchen.
Hier in Krakow ist gerade ein Fest auf dem Marktplatz. Die Menschen hier erscheinen mir fröhlich und zufrieden. Sie können wieder alles kaufen, wenn auch noch nicht immer in erforderlicher Qualität und zu teilweise überteuerten Preisen. Doch ein Aufschwung ist zu erwarten.
Die polnischen Männer und Frauen sind sehr kinderfreundlich. Von klein auf werden die Kinder von der Kirche betreut. Was die Mutterrolle anbelangt scheint alles recht traditionell, doch die Frauen haben beruflich und sozial offiziell eine tragende Funktion. Polnische Frauen sind tatsächlich sehr attraktiv und modebewusst, die Männer charmant und immer auf die Frauen bedacht. Ich fühle mich hier wohl.
Was dringend ist, ist die Modernisierung von Industrie und Wohnungsbau. Auf dieser Grundlage wird sich auch das Umweltproblem lösen lassen.
Immer noch ist der Wechselkurs nicht in Ordnung. Es ist spottbillig, für uns, hier zu leben und einzukaufen.
Beispiel: 1 Eis, 1 Kuchen, 2 Kaffee: 3 DM.
Schön ist es allerdings, frei wechseln zu können und auch jederzeit. Es gibt keinen Schwarztausch mehr!
26.03.91
Opole
Heute besuchen wir das zentrale Archiv der Kriegsgefangenenlager hier in Opole. Es ist für die Kriegsgefangenenlager auf dem Gebiet des heutigen Polens und die ehemaligen polnischen Kriegsgefangenen zuständig und verwaltet einen großen Bestand. Das Hotel, in welchem wir untergebracht sind, ist eine große Zumutung. Ich möchte Konkretes allerdings nicht berichten. Momentan liege ich jedenfalls im Bett und FRIERE! Nun lässt sich das aber nicht ändern. Die Augen vieler polnischer Menschen sind denen vieler israelischer ähnlich. Sie lassen vergangenes Leid und nicht vergessenen Schmerz erkennen. Traurige Augen könnte man sagen. Augen des Mitgefühls. Diese Trauer und dieses Mitgefühl drücken sich auch im polnischen Gottesdienst aus, der ja in der übergroßen Mehrheit katholisch ist. Wir wohnten einer Messe in Tschenstochau, dem Herzen des polnischen Katholizismus, bei. Diese Trauer und Hingebung schnürte mir die Kehle zu, ohne dass ich dazu ein Wort verstehen musste.
Von allen Völkern, die ich bisher kennenlernen durfte, kann ich mir die Polen und Juden als beste Brüder und Schwestern vorstellen. Sie lebten ja auch so. Ihre Trennung war gewaltsam und ich denke, sie müssen sich sehr vermissen. Werden sie wieder zusammenkommen?
28.03.91
Nun ist die Reise zu Ende. Ich befinde mich im D-Zug, eine halbe Stunde vor Fulda, wo ich aussteigen und hoffentlich abgeholt werde. Haben sich meine Erwartungen erfüllt? Ich habe die Konzentrationslager in Auschwitz, Birkenau und Bergen-Belsen und das Gelände des Kriegsgefangenenlagers von Lambinowice (Lambsdorff) gesehen. Ich haben davon Fotos gemacht. Ich habe die optischen Eindrücke in mich eindringen lassen. Was die Gesamteindrücke bei mir bewirkt haben und bewirken werden, kann ich nicht ermessen, noch nicht einmal die Frage beantworten, ob es wichtig war, dort gewesen zu sein. Ich kann höchstens sagen: “Ich glaube schon.”
Ich muss darüber noch stärker nachdenken, als ich es bisher tat. Die Zeit wird es zeigen. Ich möchte auch nicht durch Vorab-Worte das zerstören, was Ergebnis sein kann.
Ich habe Polen ein wenig kennenlernen können, die Sprache und die sie sprechenden Menschen ständig um mich gehabt. Die jungen polnischen Frauen und Männer streben nach Eleganz und Weltniveau, ohne ihren Charakter dabei zu verleugnen. Sie werden schon in zehn Jahren in Fragen der Eleganz der Kleidung das Niveau von Frankreich erreichen können, in Fragen der Städtearchitektur und Inneneinrichtung wird alles noch länger dauern, und hier ist der Stil auch noch nicht so festgelegt. Bei der Kleidung hingegen heißt es sicher: Paris und Mailand.
Die polnischen Männer, die ich auch beim Tanz vorgestern Abend in vielfacher Zahl kennen lernen durfte, sind sehr charmant und auch attraktiv. Sie achten auch in höherem Alter noch auf ihre Figur. Sie verstehen es, einer Frau das Gefühl zu geben, begehrt und geachtet zu sein. Ich denke jedoch nicht, dass sie mit einem Höchstmaß von Einfühlungsvermögen die konkrete Frau betreffend gesegnet sind. Vieles ist Rolle. Hier treffen sie sich allerdings, so ist mein Eindruck, mit den polnischen Frauen. Beide Geschlechter wissen offensichtlich recht gut, was sie wollen und versuchen, dies durchzusetzen. Ich hatte jedoch den Eindruck, dass die Männer es dabei leichter haben, weil alte Rollenbilder und Privilegien sie heute noch ohne konkrete Gegenleistung erhöhen und sie sich selbst erhöhen. Dies zu ändern ist vordringlich Sache der Frauen.
Doch habe ich nie zuvor eine so große Zahl an Direktorinnen und fachlich kompetenten weiblichen Ansprechpartnern getroffen wie in Polen – und Männer, die damit offensichtlich souverän umgehen konnten und wollten. Ja, wenn ich von dem Selbstbewusstsein und der Selbstsicherheit der polnischen Frau vergleichend sprechen soll, so kann ich sagen, dass ich in der Zahl und Qualität im nationalen Maßstab noch keine selbstbewussteren kennenlernen konnte. Wenn das kein Kompliment ist – für die Frauen wie für die Männer, die dies ermöglichen.
Doch ob es so bleibt, wenn sich der Kapitalismus in den nächsten zwanzig Jahren mit Brachialgewalt und enormer Schnelligkeit durchsetzt? Oder ob dann die Frauen nicht auf die westliche Rolle der Mutter und Konsumentin verwiesen werden? Wir werden sehen.
Über die Dialektik von Zufall und Notwendigkeit
Als wir gestern abends an unserem letzten Abend ein Konzert besuchten, war es nicht irgendeins, sondern in Opole wurde das Requiem von Mozart aufgeführt. Dies war ein würdiger Abschluss unserer Reise und hat mich persönlich wie auch die meisten Teilnehmer unserer Reise stark ergriffen.